Wie der Saurengreinswinkel zu seinem Namen kam

Das Ulrichsviertel zählt zweifellos zu den malerischsten Gebieten der Augsburger Innenstadt. Zwischen Eserwall, Rotem Tor und der Basilika St. Ulrich und Afra haben sich dutzende Handwerkerhäuser erhalten, deren Ursprünge in Teilen bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen. Allein die schmale Kirchgasse und der angrenzende Saurengreinswinkel zählen 18 Baudenkmäler. Diesen „Winkel“ kann man heute auch als lauschiges Plätzchen bezeichnen, auf dem eine Bank in lichtem Baumschatten zum Verweilen einlädt. Eine zwischen schmucken Fensterläden und Blumentrögen angebrachte Hinweistafel erläutert seinen kuriosen Ortsnamen: Der Straßennamenforscher Christoph Haid machte 1833, den „vermöglichen Bürger“ Hans Saurenkrein, zum Namenspaten, welcher hier im 14. Jahrhundert mehrere Häuser besessen habe. Jüngere Forschungen hingegen verorten das Leben dieses Mannes in das 16. Jahrhundert. Das Stadtlexikon erwägt auch eine Benennung als Fingerzeig auf einen schlechten, sauren Boden. Doch woher hat der Saurengreinswinkel nun wirklich seinen Namen? Die Antwort darauf findet sich in den reichen Beständen des Augsburger Stadtarchivs.

Im Jahr 1505 erscheint ein Bürger namens Hans Saurengrein erstmals im Bezirk „Eng Kirchgass“ in den Augsburger Steuerbüchern - und zahlte gar nichts! Vermutlich hatte er erst im vergangenen Jahr geheiratet. Denn im ersten Ehejahr wurde jungvermählten Paaren die übliche Steuer meist erlassen, um den Aufbau des eigenen Hausstandes zu erleichtern. Auch in den Stadtrechnungen wurde Saurengrein zu dieser Zeit aktenkundig. Gegen Entrichtung einer Gebühr von vier Gulden erstand er im August 1505 das Augsburger Bürgerrecht. Zwei zentrale Informationen liefert der knappe Zweizeiler im schwergewichtigen Rechnungsbuch des städtischen Baumeisteramtes: Saurengrein war aus Utting am Ammersee in die Reichsstadt gekommen und ging hier dem Weberhandwerk nach.

Im Ulrichsviertel war Hans Saurengrein unter seinesgleichen. Von den steuerpflichtigen Bürgern an der „Eng Kirchgass“, so errechnete es der Historiker Claus-Peter Clasen für die Zeit um 1600, fanden über 40 Prozent ihr Auskommen mit der Weberei. Das Wohnhaus der Saurengreins (heute: Saurengreinswinkel 4) verfügte dafür wie viele andere Gebäude des Viertels über zwei sogenannte Weberdunken. In diesen vom Wohnraum abgesonderten Kellergeschossen war genügend Platz für die Webstühle, die höhere Luftfeuchtigkeit hielt das Garn geschmeidig. Mancher Augsburger Weber ruinierte sich in diesem kalt-feuchten Kellerklima gegen bescheidenen Lohn über die Jahre seine Gesundheit. Saurengrein beschäftigte zu dieser harten Arbeit auch drei Weberknechte. Dennoch reichte sein Einkommen wohl gerade für die Versorgung der Familie, weisen doch die Summen in den Steuerbüchern durch die Jahrzehnte nie auf ein größeres Vermögen hin. Am Geschehen in der Weberzunft nahmen die Saurengreins wohl dennoch rege teil. Der Weber und Chronist Simprecht Kröll erwähnt Mitglieder der Familie mehrfach in seinen Aufzeichnungen. So berichtet er, dass der „jung Sawrengreyn“, wohl ein Sohn von Hans, bei einem Festumzug der Weberzunft im Mai 1545 als Fahnenträger fungierte.

Neben dem Brotberuf als Weber war Hans Saurengrein in seinem Viertel als Gassenhauptmann tätig. In diesem Ehrenamt erfasste er im engen Umkreis für etwa ein Dutzend Häuser Informationen zu Getreidevorräten, Wehrfähigkeit und Waffenbesitz, vermutlich nahm er auch kleinere polizeiliche Aufgaben wahr. 1544 schließlich trat er im bereits fortgeschrittenen Alter ganz in städtische Dienste und wurde Wächter am unweit gelegenen Schwibbogentor. Der Chronist Kröll berichtet dazu: „Anno 1544 Jare da starb zu Augspurg […] Hanns Hartmann, der under dem Schwigboger Tor ein Thorhütter gewesen und ist der alt Hanns Sawrengrein, Weber, an des Hartmanns stat ein Thorhütter worden.“ Mit diesem Posten war der Umzug in eine Dienstwohnung am Stadttor verbunden. 1550 ist Hans Saurengrein dort letztmalig nachweisbar, vermutlich verstarb er wenig später. Um 1548 verließ auch der Sohn Lienhart als letzter Namensträger den Winkel an der Kirchgasse.

Über 40 Jahre hatten Mitglieder der Familie hier gelebt. Diese Kontinuität, der seltene Familienname und der gewisse Bekanntheitsgrad Hans Saurengreins waren wohl entscheidende Faktoren, dass der Name auch nach dem Wegzug der Familie im Sprachgebrauch haften blieb. 1547 wurde die Gasse zwar nach Saurengreins Nachbar Jörg Holderstock in einem Amtsbuch Holderstockwinkel genannt. Doch 1555 bezeichnete der Augsburger Werkmeister das ehemalige Familiendomizil wiederum als „ain Behausung an der engen Kirchgasen im Winckel, ist des Saurergreins gewest“. Die Saurengreins setzten sich gegen die Holderstocks durch: Um 1580 hatte sich die Bezeichnung „des Saurengreins Winckhel“ in den amtlichen Aufzeichnungen der städtischen Steuermeister fest etabliert.

Die Nachkommen Saurengreins lassen sich noch über Jahrzehnte in der Stadt nachweisen, sie reisten aber auch weit über die Stadttore hinaus. 1542 zog ein Sohn gegen die Türken nach Ungarn, ein anderer 1543 für die Medici nach Oberitalien in den Krieg. Die Söhne Jacob, Lienhart, Marx und Michel, kamen als Venediger Boten in den 1550er und 60er Jahren weit herum. In der Stadt aber haben Zeitgenossen dem „Stammvater Hans“ mit dem Namen Saurengreinswinkel ein Denkmal gesetzt, das wir auch 500 Jahre später auf Straßenschildern, Briefköpfen und im Telefonbuch finden. Es ist ein Denkmal für eine typische Biografie im Augsburg der frühen Neuzeit.